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Kindheit und Jugend


 

'Neige à Lower Norwood', Camille Pissarro 1870, National Galery, London Alfred Percival Maudslay kam am 18. März 1850 als das vorletzte von acht Kindern in Lower Norwood, Tunbridge Wells, im Süden von London zur Welt.
Seine Eltern, Anna Maria und Joseph Maudslay, wohnten mit ihren Kindern in der Lower Norwood Lodge. Zu einem späteren Zeitpunkt wurde die Lodge verkauft, und die Maudslays zogen in die britische Hauptstadt, in ein Haus am Hyde Park Square 21.

Es war das Zeitalter der Viktorianik. Während England in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, vor allem in den 30er und 40er Jahren, von heftigen politischen und sozialen Unruhen erschüttert worden war, zeichneten sich die Folgejahre, während der Maudslay seine Kindheit verlebte, durch eine vergleichsweise ruhige Periode aus. Das Königreich befand sich nun in einem merkwürdigen Gleichgewicht von sozialer Umbruchstimmung und einer stark familienzentrierten, gefestigten Gesellschaft; von Industrialisierung und ländlicher Idylle; von Realismus und dem starken Glauben an moralische Werte.

Königin Victoria, seit 1837 auf dem britischen Thron, zog sich nach dem Tod ihres Gatten Albert 1860 zwar stark aus dem politischen Tagesgeschehen zurück, wurde jedoch vielleicht gerade wegen ihrer meist nur im Hintergrund verbleibenden Präsenz und nicht zuletzt durch ihr langes Leben zu einer Symbolfigur, mit der und deren moralischen Werten sich die gesamte englische Gesellschaft identifizierte. Chesterton drückte das viktorianische Selbstgefühl anschaulich aus, als er von dem viktorianischen Maler Watts sagte:

"He has the one great certainty which marks off all the great Victorians from those who have come after them: he may not be certain that he is successful, or certain that he is great, or certain that he is good, or certain that he is capable: but he is certain that he is right"4.

Diese Gewißheit, das moralisch Rechte zu kennen und danach zu handeln, war eine treibende und auch ambivalente Kraft im viktorianischen England. Der Glaube daran, daß alle Menschen Brüder sind, führte beispielsweise in Großbritannien 1807 zur Abschaffung des Sklavenhandels und 1833 zur parlamentarischen Abschaffung der Sklaverei an sich - doch gleichzeitig war es der Glaube an das britische Imperium und an die Wichtigkeit der eigenen Handelsinteressen, der die Engländer zu Kolonisierung und Annektion zahlreicher Länder auf der ganzen Welt führte.
Den Drang zur Kolonisierung gab es natürlich nicht nur im englischen Königreich, und ebensowenig war die Grundstimmung dieses "viktorianisch" genannten Ethos´ auf die britischen Inseln beschränkt. Auch in Europa herrschte der untergründige Glaube daran, daß trotz der Strömungen von Realismus und Materialismus Religion, moralische Verantwortlichkeit und Willensfreiheit existierten.

Die Selbstsicherheit, die aus der Überzeugung, das Rechte zu kennen und zu tun, rührte, schien auch Maudslay in hohem Maße besessen zu haben. Von Haus aus nicht darauf angewiesen, mit seiner Arbeit für seinen Lebensunterhalt aufkommen zu müssen, zeigen doch seine abwechslungsweise Biographie und seine Errungenschaften im politischen und archäologischen Bereich, daß er vor allem ein entschlußfreudiger Mann der Tat war - praktisch, durchsetzungsfähig und ausdauernd. Daß er aber bei aller Bestimmtheit immer auch Gentleman blieb, bescheinigten ihm alle, die ihn kannten.


Londoner Börse,
Photographie, Jahrhundertwende Im 19. Jahrhundert war London zum Zentrum der Weltwirtschaft geworden. Zahlreiche Banken, die Börse und Versicherungsgesellschaften hatten ihren Sitz in London, und der Handel mit importierten Waren und die Industrielle Revolution machten die Stadt reich. London wurde im 19. Jahrhundert zur größten Stadt der Welt: die Einwohnerzahl stieg von 900.000 zu Anfang des Jahrhunderts, über 2,4 Mio. im Jahr 1851 auf 6,5 Mio. zur Jahrhundertwende.
Und obwohl in der Mitte der 1850er Jahre und in Folge in den 70er und 90er Jahren Spekulationen zu Bank- und Wirtschaftskrisen führten, fand die Gesellschaft in der moralisch gefestigten Grundstimmung einen Halt.5

Dieses Vorhängeschloß stellte Maudslay für den Erfinder und Schlosser Joseph Bramah (1749-1815) her. Es wurde im Schaufenster von Bramahs Laden ausgestellt mit der Einladung an jeden, den Versuch zu unternehmen, es zu knacken. 200 Guinees waren für eine erfolgreiche Öffnung des Schlosses ausgesetzt, ein Preisgeld, das erst 50 Jahre später der amerikanische Schlosser A.C. Hobbs erhielt, nachdem er es (nach 16 Tagen und mit Hilfe 'seines Instrumentenkoffers') geschafft hatte, das Schloß zu öffnen. Auch die Maudslays hatten zu der Industriellen Revolution beigetragen. Alfreds Großvater Henry Maudslay (1771-1831) war "vielleicht der geschickteste Mechaniker seiner Generation und setzte neue Maßstäbe beim Entwurf und der Herstellung von Maschinen"6. Der "Meister[...] aller Präzisionstechniker"7 erfand und konstruierte Maschinen, die für die Industrielle Revolution von grundlegender Bedeutung waren, wie beispielsweise eine Gewindeschneide-Drehbank zur Herstellung von Schrauben (um 1800), Schiffsmotoren für die Marine und eines der ersten Hochsicherheitsschlösser (1801).

Henry Maudslays Sohn Joseph zeichnete sich ebenfalls durch eine "reputation for scientific ingenuity" aus, "with several patents to his credit"8. Durch sein Talent, Schiffsmotoren für Kriegs- und Linienschiffe zu konstruieren, gelangte die Familie zu beträchtlichem Wohlstand9.

Joseph übernahm nach Henry Maudslays Tod 1831 die Firma Maudslay, Sons and Field, und obwohl er starb, als Alfred erst 11 Jahre alt war, hinterließ er seiner Familie offensichtlich "more than adequate resources"10.

In seiner Autobiographie, die er in seinem 79. Lebensjahr verfaßte11, erzählt Alfred Maudslay auf amüsante Weise von seiner Kindheit und Jugend.
Eine seiner ersten Erinnerungen hatte mit dem berühmten Crystal Palace zu tun. Er wurde damals von seinem Kindermädchen in den Garten des Konvents von Upper Norwood mitgenommen, von wo aus sie die Kutschen beobachteten, die zur Eröffnung des Kristallpalastes fuhren.12

Als Alfred zehn oder elf Jahre alt war, wurde er ins Internat nach Tunbridge Wells geschickt, wo er nach eigener Aussage den größten Teil der Schulzeit damit verbrachte, halb unter seinem Pult versteckte Romane zu lesen.13

Maudslay als Junge, ca. 1862Im Frühjahr 1863 kam er dann nach Harrow, eine der ersten öffentlichen, unabhängigen Schulen Englands und eine der renommiertesten. Ende des 16. Jahrhunderts von John Lyon (gest. 1592) gegründet, zählte sie viele später berühmte Männer zu ihren Schülern, zum Beispiel Sir Robert Peel, Henry John Temple (Lord Palmerston), Richard Brinsley Sheridan, Lord Byron, Henry Cardinal Manning, John Galsworthy, Anthony Trollope, Lord Shaftesbury und Sir Winston Churchill.

Auch in Harrow trug der antiquierte Lehrplan wenig dazu bei, Alfreds Interesse zu wecken:

"Most of one´s time in school was taken up in writing nonsense Latin verses; ´the sense however was no great matter`, indeed it was none, and the greatest crime one could commit was a false quanitity."14

Schon in der Eingangsprüfung als vorletzter eingestuft, wurde Alfred - oder Taff, wie er als Junge genannt wurde - nie ein großer Freund lateinischer Hexameter; auch die in späteren Klassen obligatorischen selbstverfaßten Verse über ein vorgegebenes Thema bestanden selten oder nie vor den Augen und Ohren seiner Lateinlehrer. Immerhin "verbrach" er einige Zeilen einer Anrufung an die Muse, die ihm bei verschiedenen Gelegenheiten - "with sufficient intervals of time between"15 - hilfreich waren und zu jedem Thema passten.
Zwar hinkte er in den klassischen Sprachen seinen Klassenkameraden weiterhin hinterher, doch gelang es ihm, in anderen Fächern ein paar gute Noten "zusammenzukratzen" - auch wenn es wenig andere Fächer gab. Englische Geschichte, zum Beispiel, oder Geographie wurde zu seiner Schulzeit noch ebensowenig gelehrt wie römische und griechische Geschichte.

Samstags-Hausaufgabe war für gewöhnlich, eine Karte aus dem Schul-Atlas abzuzeichnen. Damit hatte Alfred keine Probleme, und er versorgte meist auch noch die Werke seiner Freunde mit Bergen und Flüssen: "I drew caterpillars across the card more or less in position [...] and as I did not make [the rivers] run up-hill they were quite satisfactory"16. Einmal bestand ihre Aufgabe darin, eine Karte von Harrow aus dem Gedächtnis zu zeichnen; dabei durften sie bei ihrer Ehre auf keinen gedruckten Plan sehen. Maudslays Karte war anscheinend "quite a creditable performance", denn er hatte daraufhin die überaus seltene Ehre, zusammen mit seinem Werk zum Direktor geschickt zu werden, um es ihm zu präsentieren.

Alfred war schon als Junge nicht von besonders robuster Gesundheit, wie er schreibt: "I was not a strong boy, frequently catching heavy colds and with a chronic cough; and going out to school unfed on winter mornings and not returning to breakfast until nine did not improve matters...".17 Er wurde zum Schularzt gebracht, um "überholt" zu werden (man beachte den ingenieurstechnischen Ausdruck). Verordnet wurde ihm daraufhin das künftige Unterlassen von Fußball und Kricket sowie eine morgendliche Ration Rum und Milch, die ihn gegen die Kälte und die nahrungslose Zeit bis zum Frühstück wappnen sollte. Und es schien, daß dies seine "Rettung" war.
Entgegen seine Anweisungen machte er aber trotzdem weiterhin Sport, spielte "rackets" und betätigte sich erfolgreich im Hürdenlauf. Im Hochsprung gewann er für die Schule den Elvington Challenge Cup, und in Wimbledon war er in dem Schützen-Gewinnerteam, das den Ashburton Shield gewann.

Das Leben in The Grove, "certainly the roughest house in Harrow"18, erweckte oder bestärkte auch Maudslays Liebe zur Natur. In dem anliegenden Gehölz, nach dem das Haus benannt war, "a delightful bit of wild woodland", verbrachte er im Sommer viel Zeit. Er angelte Flußbarsche und beobachtete Vögel, von denen es sehr viele gab:

"I never knew such a place for birds; nightingales swarmed, and as the trees came right up to our windows, I have heard a good deal of strong language used when the chorus kept some boys awake."19


Als Maudslay Harrow schließlich verließ, war er zwar noch immer "unable to read the simplest passages of a Latin or Greek author."20 Daß er aber ansonsten eine schöne Zeit dort hatte, wird in seiner liebevollen Schilderung der altmodischen21 Erziehungsanstalt deutlich.

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